#72

All my scars are open.

Ich sitze angespannt im Unterricht, warte nahezu verzweifelt auf eine Nachricht von dir, denn du befindest dich nun schon seit vielen Stunden in dem Bus nach Prag- wann du wohl dort sein wirst?
Eigentlich möchte ich das alles gar nicht wissen, geschweige denn, dass ich eine ganze Woche ohne ich aushalten muss. Aber seitdem ich mich von dir verabschiedet habe, kracht die Wahrheit unaufhaltsam in meine rosige Welt und kollidiert mit all dem Erträumten, mit all dem Ersehnten und Erhofften. Unbarmherzig werden mir die Augen aufgerissen, während mir die Realität längst über den Kopf zu wachsen droht.Aber ich bin allein in meiner mittlerweile staubigen, zerbombten Welt. Zerfetzte Erinnerungen liegen herum oder werden von neuen, aufkommenden Wahrheitsstürmen aufgewirbelt, weiter zerrissen und stranguliert, in der kalten Hoffnung, dass das Gute bis zum letzten schwindet- und das nur, weil du, mein kühner Schutz, verreist bist?

Mein Kopf schmerzt und meine müde Augen folgen nur noch langsam dem, was sie sehen wollen. Unfaufmerksam lasse ich mich von der Musik berieseln, so lange, bis sie mich endlich wieder in eine andere Welt trägt. In die Welt, in der auch das rosige Bild noch keinen Sprung hat, so oft es die Wahrheit dort auch herunterzuwerfen vermag. Egal, wie plötzlich die Realität nun darüber zusammenbricht- jeder Ton heilt, jeder Ton verdeckt.
Kaschierte Narben glänzen schwach auf weißer Haut- und auch, wenn ich weiß, dass diese verheilt sind, so stehen sie doch für eben jene, die es noch lange nicht sind, egal, wie oft ich in meine Illusionen entrutsche, egal wie oft ich mich in Träume fliehe, dass sie es doch wären.


Ich wünschte du wärest hier, Liebster. Denn du machst es mir leichter, mir meine Lüge abzukaufen. Mit dir funktioniert mein Selbstbetrug und das Unterdrücken der Sucht. Mit dir- bin ich in Sicherheit. Komm wieder, bevor das Monster mich findet, komm schnell wieder. Denn es sucht mich schon.